Berliner kennen, lieben und hassen ihn: Den Nordsüd-Tunnel der S-Bahn Berlin. Vier Bahnlinien nutzen die stark frequentierten Gleise auf ihrer Strecke quer durch die Bundeshauptstadt. Zwischen den Stationen Friedrichstraße und Yorckstraße: Ohrenbetäubender Lärm in Form von unangenehmen, fast schon an Folter grenzendes Kreischen. Hervorgerufen durch ein perfides Zusammenspiel aus blankem Metall, langen Kurven und tonnenschweren Bahnen, die sich erbarmungslos durch den Tunnel schieben.
Fenster zu? Denkste! Stillsitzen und ausharren? Schließt den Krach nicht aus. Musik lauter drehen? Im Ansatz fast richtig: Wer Kopfhörer mit Noise Cancelling Technologie besitzt, sieht sich nun den neidvollen Blicken anderer Fahrgäste ausgesetzt.
Aber können Kophörer, die Active Noise Cancelling (ANC) unterstützen, gefahrlos als Gehörschutz eingesetzt werden?
Wie funktioniert Active Noise Cancelling?
Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, wie ANC genau funktioniert. ANC Kopfhörer haben an der Außenseite mindestens ein Mikrofon, welches die Geräusche der Außenwelt aufnimmt. Das ist wichtig, damit der Kopfhörer im nächsten Schritt den passenden Gegenschall erzeugen kann.
Wie bekannt ist, breitet sich Schall in Wellen aus. Der Kopfhörer analysiert innerhalb von Sekundenbruchteilen diese Wellen und erzeugt die exakte Gegenwelle.
Man kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass das Ohr nun eine zusätzliche Schallwelle aufnehmen und verarbeiten muss. Stellt sich die Frage: “Ist das unterm Strich nicht gefährlich bzw. lauter fürs Ohr?”
Nein, dem ist natürlich nicht so. Zwar gelangen am Ende zwei Schallwellen ins Ohr, jedoch heben sich beide Wellen gegenseitig auf und an unserer Ohrmuschel kommt, zumindest theoretisch, kein Geräusch mehr an.
Der Verdeutlichung halber hier veranschaulicht, in Blau das Störgeräusch von außerhalb, Grün die gegensteuernde Schallwelle:
In der Praxis funktioniert das natürlich nicht zu 100%, kein ANC Kopfhörer der derzeit auf dem Markt erhältlich ist, kann alle Außengeräusche schlucken. Besonders bei hohen, schnell wechselnden Frequenzen wie Kindergeschrei stellen eine echte Herausforderung an die komplexen Soundsysteme. Logisch, je variationsreicher die Geräusche, desto mehr muss der Chip im Innern des Kopfhörers arbeiten und gegensteuern. Und das möglichst in Echtzeit! Pauschal kann man also sagen, je monotoner ein Störgeräusch, desto einfacher für den Kophörer, dieses zu isolieren und auszublenden.
Leider sind Kopfhörer, welche diese Technologie unterstützen, recht teuer. Genau wie aktuelle Smartphones, die von der Mehrheit der Deutschen zur Wiedergabe von Audioinhalten genutzt werden. Nur gut, dass man beides versichern kann! Was Apple Care für die AirPods ist, ist die Handyversicherung für’s Smartphone.
Gefahren durch ANC
Hochfrequenter Problembereich
Während ANC Kopfhörer mit tiefen, monotonen Störgeräuschen hervorragend umgehen können, stellen hohe Frequenzen nach wie vor eine große Herausforderung an die Geräte dar. Der Hund liegt genau hier begraben, in der technischen Umsetzung: Durch den fehlenden Klangteppich herausgefilterter Geräusche, können hohe Frequenzen oder plötzliches Geschrei deutlich intensiver wahrgenommen werden. Denn diese gelangen nun losgelöst vom Grundrauschen ans Ohr, sind gewissermaßen isoliert und werden, wie beschrieben, kaum reduziert. Gewöhnt sich der Nutzer an die Ruhe um ihn herum, kann ein unerwartetes, hohes Geräusch wie etwa das Schrillen der Türklingel im Extremfall zu einem kurzzeitigen Hörsturz führen. Wer über ein sehr sensibles Gehör verfügt und / oder sehr schreckhaft veranlagt ist, sollte sich dessen bewusst sein.
Noise Cancelling auf dem Fahrrad
Die Nutzung von Kopfhörern generell ist im Straßenverkehr eine häufig diskutierte Angelegenheit. Darf man das? Wie laut darf die Musik sein? Wann ist es zu laut? Darf ich das Noise Cancelling meiner AirPods aktivieren? Und wie sieht das Ganze auf dem Fahrrad aus?
Die Diskussion ist eigentlich unnötig, denn im fortlaufend aktualisierten Bußgeldkatalog steht die Antwort schwarz auf weiß. Ja, man darf als Teilnehmer im Straßenverkehr grundsätzlich Kopfhörer nutzen. Dies gilt sowohl für Auto- und Fahrradfahrer als auch für Fußgänger. Wichtig ist es dabei zu beachten, dass die Lautstärke von Musik (oder Telefonat) so gewählt ist, dass die eigene Verkehrssicherheit und die anderer Verkehrsteilnehmer nicht beeinträchtigt wird. Hä?
Im Klartext: Akustische Signale wie etwa Klingeln, Hupen oder gar Martinshorn, müssen noch wahrgenommen werden. Ein herannahendes Fahrzeug erkennt man durch Blickkontakt (ja, in der Praxis verlässt man sich ab und an auf sein Gehör – sollte man aber nie!), weshalb dies bei der Wahl der Lautstärke aus Sicht des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden muss.
Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen: Auch mit aktiviertem Noise Cancelling (ich nutze Apple AirPods Pro) bleiben die entscheidenden akustischen Signale hörbar. Für das eigene Sicherheitsgefühl ist es aber allemal ratsam, lieber ohne Kopfhörer in den Straßenverkehr einzutauchen. Ganz besonders in einer Zeit, in der leise Elektroautos auf dem Vormarsch sind. Laut einer Umfrage durch Opinary sprechen sich übrigens rund zwei Drittel dafür aus, Kopfhörer im Straßenverkehr zur Sicherheit aller grundsätzlich zu verbieten.
Auch KFZ-Versicherungen gehen auf Nummer sicher: Häufig wird die Versicherungsleistung nicht erbracht, da das Fahren mit Kopfhörern als grob fahrlässig eingestuft wird. Klarheit schafft hier nur der Blick in die eigenen Versicherungsunterlagen.
Kopfhörer auf der Baustelle
Ein ganz anderer Anwendungsbereich eröffnet sich in den eigenen vier Wänden. Als Hausbesitzer greift man, in guter alter Heimwerker-Manier, ab und an mal zur Kreissäge, nutzt den Winkelschleifer oder wirft das Schleifgerät an. Auch als Mieter bieten sich immer wieder Gelegenheiten, selbst tätig zu werden und die Löcher für das neue Regalbrett kurzerhand selbst zu bohren. Für Arbeiten mit derart lärmenden Geräten sollte tunlichst ein Gehörschutz verwendet werden! Meist erinnert einen die eigene Schmerzgrenze relativ schnell daran.
Ich selbst fand mich 2021 in der Situation, ein Werkstück mit der Oberfräse bearbeiten zu wollen. Die Ironie, ein solch spezielles und unübliches Werkzeug zu besitzen, jedoch keine bunten Billig-Ohrstöpsel, bringt mich bis heute zum Schmunzeln. Genau dabei ist es geblieben, ich besitze noch immer keinen Gehörschutz. Denn ich wusste mir zu helfen: Ich habe mir meine AirPods geschnappt, mir in die Ohren gesteckt und das Noise Cancelling aktiviert. Das immergleiche Dröhnen der Fräse war für die Kopfhörer ein leichtes Spiel, die spontane Lösung funktionierte einwandfrei. Natürlich hörte ich das Werkzeug arbeiten, doch es tat nicht weh am Trommelfell (wie es mit deaktiviertem Noise Cancelling definitiv der Fall war).
Ich war so überzeugt von der Lösung, dass ich inzwischen schon mehrere Arbeiten auf diese Weise erledigt habe.
Eines Tages war ich fröhlich mit der Kreissäge zugange, als ganz plötzlich meine AirPods ausgingen und das Gekreische der rotierenden Säge sich vehement in mein Gehör drängte. Autsch!
Was war passiert? Der Akku hat nachgelassen. Ja, das ist ein Problem bei ANC Kopfhörern: Sie sind meist kabellos, weisen daher nur eine begrenzte Laufzeit auf. Meine AirPods muss ich im Alltag jeden dritten Tag aufladen, wobei die Häufigkeit der Ladezyklen natürlich mit der Nutzung zusammenhängt. Die Betriebszeit am Stück ohne Ladung beträgt laut Apple ca. 4,5 Stunden. An jenem Kreissäge-Nachmittag jedenfalls erfuhr ich am eigenen Körper, dass ein plötzlich ausfallendes Noise Cancelling nicht nur für einen Schrecken, sondern auch für kurzzeitigen Ohrschmerz sorgen kann.
Am Ende sind es Kopfhörer, deren primärer Einsatzzweck nicht im Absorbieren von Baulärm liegt. Dass sie das gut können bedeutet nicht, dass man sie dafür missbrauchen sollte. Lieber ein Paar Ohropax oder sogar einen richtigen Gehörschutz, der als solcher getestet wurde und den Anforderungen problemlos standhält.
Bei einem ordentlichen Gehörschutz kann kein Akku leer gehen. Und wenn der Schutz durch Staub oder anderweitig kaputt geht, hat er wahrscheinlich weniger als 10% des Kopfhörers gekostet.